von Gundula Gwenn Hiller und Ulrike Zillmer-Tantan
Interkulturelle Kompetenz ist, war und bleibt auch im Bereich der Arbeitsvermittlung eine entscheidende Schlüsselqualifikation. Unsere Welt – und vor allem der Arbeitsmarkt – ist geprägt von Mobilität, Diversität und Migration. Das kann zugleich bereichern und bisweilen herausfordernd sein. Missverständnisse, unterschiedliche Erwartungen, Werte und Kommunikationsstile können sich im Kontext der Arbeitsvermittlung unmittelbar auf den Beratungsprozess auswirken. Arbeitsvermittler:innen müssen Brücken schlagen und gleichzeitig arbeitsmarktpolitische Anforderungen berücksichtigen.
Die Broschüre „Eine Frage der Perspektive 2 – Critical Incidents aus den Bereichen arbeitsmarktbezogene Beratung, Vermittlung und Integration“, herausgegeben von Gundula Gwenn Hiller und Ulrike Zillmer-Tantan, knüpft an diese Herausforderungen an. Erschienen 2021 richtet sie sich an Berater:innen, Trainer:innen und Interessierte, die interkulturelle Kompetenzen im beruflichen Kontext stärken möchten. Sie enthält kommentierte Fallbeispiele aus dem Alltag der beruflichen Beratung und Vermittlung und ist bereits der zweite Band der Reihe. Zuvor erschien
Band 1 namens „Eine Frage der Perspektive – Critical Incidents aus Studentenwerken und Hochschulverwaltung.“, herausgegeben vom Deutschen
Studentenwerk.
Beide praxisorientierte Broschüren zeigen anhand von interkulturellen Fallbeispielen – sogenannten Critical Incidents, wie interkulturelle Herausforderungen möglichst konstruktiv analysiert und bearbeitet werden können. So kam ein Fundus von insgesamt 53 interkulturellen Fallbeispielen zusammen, davon 30 im ersten und 23 im zweiten Band. Vieles lässt sich sicherlich auch auf andere Lebensbereiche übertragen.
Anliegen der Broschüren ist es, die Leser:innen mit den Fällen zu erreichen, in denen sich vermutlich viele von ihnen wiederfinden würden. „Stimmt, das hatte ich auch schon einmal!“ oder „Das könnte auch ich sein.“ Sie möchten dem Wunsch nach Lösungen entgegenkommen und dabei gleichzeitig verdeutlichen, dass es oft mehr als eine Wahrheit gibt und niemand allein Recht oder Schuld hat. Interkulturelles Lernen beginnt mit einer einfachen, aber tiefgreifenden Erkenntnis: Es ist immer eine Frage der Perspektive.
Die Critical Incidents beruhen dabei jeweils auf realen Erfahrungen und sind so gestaltet, dass sie die Leser:innen zu neuen Einsichten führen sollen. Gleichzeitig liefern die Broschüren zu jedem Critical Incident zwei bis vier Kommentierungen von real existierenden Personen, die selbst nicht in den Fall involviert waren, aber entweder kulturell oder fachlich gesehen einen Bezug zum Fall haben. Diesen Menschen wurden Reflexionsfragen gestellt, aus denen dann ihre Perspektive entstanden ist.
Foto: Julia Baumgart
Zwei Beispiele aus der Broschüre, hier stark gekürzt
und dadurch vergleichsweise wenig detailliert:
„Der erfahrene Elektriker“
Ein syrischer Kunde kommt zu einem Erstgespräch, es geht hier geht es vor allem um seine Kenntnisse und bisher erworbenen Qualifikationen. Er berichtet, dass er in Syrien eine technische Schule und anschließend für zwei Jahre eine Universität besucht hat. Nebenbei war er in der Firma seines
Onkels 5 Jahre lang als Elektriker beschäftigt. Leider kann er aufgrund seiner Flucht kein Zertifikat vorweisen kann. Die Beraterin verlangt daraufhin, dass er einen fünfstündigen „My Skills“-Test für den Beruf des Elektrikers in der Agentur durchführen soll. Der Kunde ist irritiert: er weiß nicht, wozu das alles notwendig ist. In vielen Kulturen sind praktische Erfahrungen und
persönliche Empfehlungen wichtiger als formale Nachweise. Die Beraterin sollte diese Perspektive berücksichtigen und offen darauf eingehen, dass der Kunde die Notwendigkeit des Tests möglicherweise als Misstrauen empfindet. Eine kultursensible Herangehensweise zollt den praktischen Erfahrungen des Kunden Wertschätzung und erklärt transparent, warum der „My Skills“-Test notwendig ist, etwa um fehlende Zertifikate zu ersetzen und seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Hier könnte eine empathische Anerkennung, z. B. durch die Aussage „Es ist beeindruckend, wie viel Erfahrung Sie in Ihrer Heimat gesammelt haben“, Vertrauen aufbauen und die Basis für eine konstruktive Zusammenarbeit schaffen. Falls der Test als unangemessen empfunden wird, könnten alternative Methoden zur Kompetenzfeststellung angeboten werden, z. B. ein praktisches Assessment oder ein Gespräch mit einem Experten. Zudem sollte der Kunde bei der Vorbereitung des Tests unterstützt werden, um eventuelle Unsicherheiten abzubauen.
„Mit Kind und Kegel“
Eine Beraterin in der Arbeitsvermittlung fühlt sich überfordert, als ein italienischer Kunde zu einem Beratungstermin mit Frau, zwei Kindern, dem Bruder erscheint. Die Situation verschärft sich, als sie alle, außer den Kunden selbst, bittet, im Flur zu warten. Zwei der drei Kommentare, in diesem Fall drei Frauen mit italienischem Hintergrund, gehen darauf ein, dass sie der Fall an das Klischee der italienischen Gastarbeiter:innen erinnert, die in den 1970er Jahren nach Deutschland gekommen sind. Zugleich versuchen sie herzuleiten, aus welchen Gründen sie eine Beteiligung der Familienmitglieder als sinnvoll erachten, zum Beispiel wegen der Sprachbarriere, der emotionalen Unterstützung oder der besseren Informationsverarbeitung. Dieser Fall beleuchtet ein häufig vorkommendes Phänomen, nämlich, dass die ratsuchende Person mit Begleitung erscheint. Dies können mal der Bruder,
die Schwägerin oder der eben mehrere Familienmitglieder sein. In vielen Kulturen ist es üblich, sich zu unterstützen, indem man diejenige Person, die einen ‚schwierigen‘ oder herausfordernden Termin wie einen Behördengang hat, begleitet. Hierbei geht es nicht immer nur um sprachliche Unterstützung, sondern die Anwesenheit vertrauter Personen gibt Sicherheit in einer potenziell stressreichen Situation. Auch werden wichtige Entscheidungen, wie Berufswahl, Arbeitsaufnahme oder berufliche
Veränderung häufig gemeinsam besprochen und getroffen. Eine kultursensible Beratung erkennt an, dass in vielen Kulturen Familie eine zentrale Rolle spielt und Entscheidungen oft gemeinschaftlich getroffen werden. Die Beraterin sollte Verständnis für die Begleitung zeigen, transparent erklären, warum ein
Gespräch zunächst allein geführt wird, und Familienmitglieder bei Bedarf gezielt einbeziehen. Wenn es die Situation erlaubt, könnten Familienmitglieder teilweise einbezogen werden, z. B. bei Fragen zur
Entscheidungsfindung oder sprachlicher Klärung. Wichtig ist, den Fokus auf die ratsuchende Person zu behalten.
Diese und die weiteren Fallbeispiele führen vor Augen, wie sehr kulturelle Prägungen den Blick auf die Welt beeinflussen und wie entscheidend Perspektivwechsel für ein besseres Verständnis sind. Sie bieten Raum für Reflexion und Diskussion. Der Erfolg in der interkulturellen Kommunikation hängt nicht zuletzt davon ab, wie gut man in der Lage ist, kulturelle Unterschiede zu erkennen, anzuerkennen und produktiv zu nutzen. Die Kommentierungen sollen die Leser:innen dazu anregen, ihre eigenen Annahmen zu hinterfragen.
- Welche Annahmen über gute Kommunikation beeinflussen meine Reaktion auf diese Situation?
- Welche Erwartungen und Normen prägen mein eigenes Verständnis von angemessenem, professionellem Verhalten?
- Welche Strategien helfen, um kulturelle Barrieren zu überwinden und gleichzeitig allen Beteiligten gerecht zu werden?
Grafik: Katharina Neubert
Solche Reflexionsimpulse helfen, die eigene kulturelle Brille abzulegen und neue Handlungsmöglichkeiten zu entdecken. Somit werden interkulturelle Herausforderungen im besten Falle zu Lerngelegenheiten. Interkulturelle Kompetenz geht weit über theoretisches Wissen hinaus: Sie erfordert ein aktives Auseinandersetzen mit der eigenen Haltung und den Werten anderer. Indes ist es auch wichtig, den Dialog zu suchen und Empathie und Offenheit für andere Perspektiven zu entwickeln. Gerade dadurch, dass sich die Perspektiven zu den Fallbeispielen in Teilen sogar widersprechen, wird
gleichzeitig versucht, das Bewusstsein für individuelle Handlungsspielräume
und andere, möglicherweise zusätzliche relevante Diversitätskategorien
zu fördern. Nicht alle Chines:innen, Italiener:innen, Deutsche „ticken“ gleich. In beiden Einleitungen zur Broschüre wird ausführlicher dargelegt, welche Werkzeuge im interkulturellen Dialog für ein verständnisvolleres Miteinander sorgen können. Am Ende der Broschüren finden sich drei Arbeitsblätter mit weiteren Impulsen: Das erste Arbeitsblatt stellt vor, wie die Arbeit mit den
Critical Incidents im interkulturellen Training mithilfe der Methode Gruppenpuzzle umgesetzt werden kann. Das zweite Arbeitsblatt visualisiert mögliche Einflussfaktoren auf Kommunikationssituation anhand
des K-P-S-I-Modells (s.Abb. 1). Dabei steht K-P-S-I für Kultur – Person – Situation und Institution. Zahlreiche Impulsfragen erweitern den Blick wiederum über kulturelle Faktoren hinaus, damit der Gefahr entgegengewirkt wird, kulturelle Faktoren überzubewerten. Das dritte Arbeitsblatt schließlich
richtet sich an alle, die ihre eigenen erlebten interkulturellen Fälle als Critical Incident erheben möchten und zum Fundus beitragen möchten. Die Fallbeispiele aus den Broschüren werden vermehrt in interkulturellen Trainings eingesetzt, weil sich durch den Dialog und die gemeinsame Reflexion
wichtige Lernmomente ergeben können. Dennoch sind sie auch zum Selbststudium geeignet.
Beide Broschüren sind zum kostenlosen Download im Internet frei verfügbar. Ein Band 3 zum Thema „Critical Incidents aus dem Bereich Diversity und Inklusion“ ist bereits in Vorbereitung.
Gratis-download-Möglichkeit für beide Bände unter https://ggwennhiller.com/bucher/
Unsere Autorin Dr. Gundula Gwenn Hiller ist Professorin für Beratungswissenschaften mit Schwerpunkt Interkulturelle Kompetenz und Migration an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit in Mannheim. Sie lehrt in mehreren Studiengängen im In- und Ausland und gibt Fortbildungen im Bereich Diversität, interkulturelle Kommunikation, kultur- & diversitysensible Sprache, Selbstfürsorge und emotionale Intelligenz.
Mehr unter: www.ggwennhiller.com
Unsere Autorin Ulrike Zillmer-Tantan ist Kulturwissenschaftlerin und
Trainerin für interkulturelle Kompetenz / Future Skills an Hochschulen. Nach beruflichen Stationen beim Deutschen Studentenwerk und an der Europa-
Universität Viadrina lehrt und arbeitet sie aktuell an der Technischen Universität Berlin. Ihr Engagement fokussiert sich insbesondere auf internationale Studierende und den deutsch-japanischen Jugendaustausch.
Foto: Christian Kielmann