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bag arbeit trifft: Prof. Dr. Dieter Euler

bag arbeit trifft.. Prof. Dr. Dieter Euler ist Wirtschaftspädagoge und emeritierter Professor für „Educational Management“ an der Universität St. Gallen

1. Wie hat sich die berufliche Bildung in den letzten Jahren gewandelt?

Die Berufsbildung ist wie kein anderer Bildungssektor verbunden mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen.

Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft führen schnell auch zu Anforderungen in der Berufsbildung. Vor diesem Hintergrund will ich beispielhaft drei wesentliche Entwicklungen hervorheben:

  • Die Migrationsbewegungen der vergangenen Jahre, insbesondere der Zustrom einer großen Zahl von Migrant:innen in 2015/16, stellten die Berufsbildung vor die Herausforderung, in kurzer Zeit durch neue und angepasste Bildungsgänge die soziale Integration in Ausbildung und Betrieb zu unterstützen.
  • Die digitale Transformation verändert in hoher Innovationsrasanz die Arbeitsorganisation und Geschäftsprozesse in der Wirtschaft. Damit verändern sich Berufsprofile, Curricula und es entstehen neue Formen des Lehrens und Lernens.
  • Die COVID-19-Pandemie hat den schon zuvor bekannten Sachverhalt einer engen Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg nochmals verstärkt. Auch in der Berufsbildung wird dies sichtbar, etwa durch einen seit Dekaden nicht abschmelzenden Übergangssektor. Hier entstand ein Labyrinth an Maßnahmen, ohne die Kernherausforderung, die Integration von Jugendlichen mit Startnachteilen in Ausbildung und Beschäftigung, zu bewältigen.

2. Welche Bereiche des Übergangssektors funktionieren in Ihren Augen besonders gut und wo müssen Strukturen verbessert werden?

Aus meiner Sicht sind bei der Gestaltung des Übergangs von der Schule in eine qualifizierte Berufstätigkeit für Jugendliche mit Startnachteilen zwei Aspekte zentral:

  1. Eine möglichst enge Anbindung der individuellen Förderung an die berufliche Qualifizierung. Am besten funktioniert dies, wenn die Förderung in eine duale Berufsausbildung integriert wird, wie dies beispielsweise in dem Konzept der «Bedarfsorientierten Budgetierung» in der Stadt München geschieht.
  2. Damit verbunden ist die möglichst starke Einbindung von betrieblichen Phasen. Rein schulische Maßnahmen fördern bei ‘schulmüden’ Jugendlichen zumeist nicht die Lernmotivation und bringen sie nicht in den Kontakt mit Betrieben.

Leider folgte die Gestaltung des Übergangssektors in vielen Bereichen der Leitidee der Separierung von den dualen Ausbildungsgängen. Vor diesem Hintergrund blieben auch die Übergangsquoten aus dem Übergangssektor in eine duale Berufsausbildung eher ernüchternd. So stimmt doch nachdenklich, dass Jugendliche nach 24 Monaten in häufig mehreren Maßnahmen des Übergangssektors nur ca. 48 % den Sprung in eine duale Ausbildung schaffen. Die jährlich ohne Ausbildungs- oder Studienabschluss in das Beschäftigungssystem strömende Gruppe junger Erwachsener addiert sich zu einer seit Jahren relativ stabilen Zahl von mehr als 1,55 Mio. Menschen in der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen, das sind ca. 15 % der Altersgruppe, die ohne Ausbildung eine häufig prekäre Beschäftigung aufnehmen oder suchen.

3.Braucht es neue Qualitätsstandards für berufliche Integrationsmaßnahmen?

Bezogen auf die Gestaltung von beruflichen Integrationsmaßnahmen im Übergang zu einer qualifizierten Berufsausbildung lassen sich aus den skizzierten Überlegungen einige Prinzipien ableiten: Die Maßnahmen sollten berufliche Qualifizierung und individuelle Förderung eng verzahnen und dabei die betriebliche Praxis als Ausbildungs- und Sozialisationsfeld einbeziehen. Dazu kommt unverzichtbar die Notwendigkeit, diese sehr herausfordernde Gestaltung durch personelle und damit auch finanzielle Ressourcen zu unterlegen. Eine wesentliche Komponente in der Umsetzung wird dabei darin liegen, die Kooperation sogenannter multiprofessioneller Teams zu gestalten. Häufig sind berufliche Qualifizierungsprozesse beispielsweise durch eine Sprachförderung, ein Lerncoaching und die punktuelle Bewältigung akuter psycho-sozialer Problemlagen zu flankieren.

4.Kann die Digitalisierung zu mehr Chancengleichheit beitragen?

Eine Antwort auf diese noch allgemeine Frage ist recht voraussetzungsvoll. Lassen Sie mich die Suche nach einer Antwort über neue Fragen starten. Was meint ‘Digitalisierung’ in der Berufsbildung? Kompetenzen zur Bedienung digitaler Technologien, zur Bewältigung digitaler Arbeitsprozesse? Oder geht es um neue, durch digitale Medien unterstützte Lern- und Ausbildungsprozesse?

Die Antworten auf diese Fragen fallen ambivalent aus. So wird der Zugriff auf Wissen durch das Internet zwar einfacher, zugleich wird die Bewertung dieses Wissens in Zeiten von Fake News, gezielter Desinformation oder Marketingüberflutung im Netz anspruchsvoller und schwieriger. Arbeitsprozesse können einerseits herausfordernder und für viele Menschen auch überfordernd werden, andererseits kann die Qualifizierung für veränderte Arbeitsprozesse durch die digitalen Medien selbst unterstützt und damit für mehr Menschen zugänglicher werden.

Noch wenig untersucht ist die Frage, inwieweit durch den Einsatz digitaler Technologien benachteiligte Jugendliche gefördert werden können. Potenziell ermöglichen digitale Lernmedien eine bessere Individualisierung durch die Anpassung an besondere Anforderungen der Lernenden. Hier ist zum Beispiel an die Übersetzung von Lerninhalten für Jugendliche mit sprachlichen Defiziten, an Anpassungen der Benutzeroberflächen für Sinnesbehinderte oder generell an die Ermöglichung unterschiedlicher Lerngeschwindigkeiten in einer Gruppe von Auszubildenden zu denken. Darin liegt grundsätzlich ein Potenzial insbesondere auch für die Ausbildung von Jugendlichen mit Startnachteilen. Aktuell werden diese Potenziale erst ansatzweise ausgeschöpft.

Insofern gilt auch hier die bekannte Erkenntnis, dass nicht die Digitalisierung über Fort- und Rückschritte in der Bildung entscheidet, sondern die sie gestaltenden Menschen.

5.Welche weiteren bildungspolitischen Reformbedarfe sehen Sie für die kommende Regierung?

Welche aktuellen Herausforderungen bildungspolitische Reformen begründen, ist in einem so interessendurchsetzten Politikfeld wie der Berufsbildung u. a. abhängig vom Standort der jeweiligen Akteure. Dies wird nicht zuletzt in dem vor einigen Monaten vorgelegten Bericht der „Enquete-Kommission Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ sichtbar, in dem auf mehr als 500 Seiten die aktuellen Herausforderungen der beruflichen Bildung skizziert werden, für die Bewältigung dieser Herausforderungen aber häufig kein Konsens über die notwendigen Handlungsschwerpunkte sichtbar ist. Stattdessen werden viele Handlungsempfehlungen durch Sondervoten, Repliken und Gegenrepliken relativiert.

Ich möchte aus dem breiten Spektrum an Herausforderungen die folgenden Reformbedarfe hervorheben:

  • Im Hinblick auf die Jugendlichen mit einer Hochschulreife sollten berufliche und akademische Bildung nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sich stärker miteinander verzahnen. Dies geschieht vielerorts bereits, etwa in den verschiedenen Formen des Dualen Studiums oder in dem neuen Modell einer «studienintegrierenden Ausbildung» an der neu gegründeten Beruflichen Hochschule Hamburg. Prinzipiell sind Konzepte gefragt, die die Berufsbildung nicht als Durchgangsstation hin zur akademischen Bildung verstehen oder sie gänzlich marginalisieren, sondern sie mit ihren Stärken in verzahnte Modelle integrieren.
  • Ferner ist es dringlich, die Rolle der Berufsbildung zur sozialen Integration von Jugendlichen mit Startnachteilen zu stärken. Derzeit gelingt es der Berufsbildung bei einzelnen Gruppen nicht, die aus den allgemeinbildenden Schulen übernommenen sprachlichen, kognitiven oder sozialen Startnachteile auszugleichen. Wichtig wären hier personell gut ausgestattete Förderkonzepte, die zum einen die Startnachteile weitmöglichst ausgleichen, zugleich aber zu einem qualifizierten Ausbildungsabschluss führen.
  • Zudem ist die Berufsbildung gefordert, curricular und didaktisch mit dem hohen Obsoleszenztempo von Wissen und Innovationen umzugehen. Die Halbwertzeit von Wissen ist in vielen Berufen verkürzt, die Bedeutung des ‘Lebensberufs’ nimmt ab. Wenn das Fachwissen immer kurzlebiger wird, dann ist Wissen in Schule und Berufsbildung exemplarisch und Kompetenzen zum selbstorganisierten Lernen werden zentral. Neben dieser didaktischen Schwerpunktverschiebung sind Curricula flexibler zu gestalten. Sie sollen schneller aktualisierbar sein, und die Detailsteuerung sollte weniger zentralistisch, sondern verstärkt in den Lernorten erfolgen. Auch hier fehlen weniger die guten Beispiele, sondern mehr der breite Transfer und die sorgfältige Implementierung.
  • In eine ähnliche Richtung zielt die systematische Umsetzung zukunftsgerichteter Bildungsziele. Hier predigen nationale wie internationale Institutionen seit einigen Jahren die verstärkte Bedeutung sogenannter «future skills» wie beispielsweise die drei «C» (critical thinking, creativity, communication), aber auch Kompetenzbereiche wie digitale Kompetenzen oder die Bildung für nachhaltige Entwicklung. Wünschenswert wäre aus meiner Sicht eine Klärung dieser Bildungsziele, mehr aber noch deren ernsthafte Umsetzung.

6.Was kann Deutschland von Partnerländern lernen, wenn es um mögliche Veränderungen im eigenen Berufsbildungssystem geht?

Die Frage nimmt einen in der Diskussion zumeist vernachlässigten Aspekt auf. Wenn viele Länder sich die Berufsbildung in Deutschland anschauen, um von ihm zu lernen, so besitzt der Blick über die Grenzen auch umgekehrt das Potenzial, die Weiterentwicklung der Berufsausbildung in Deutschland anzuregen. Ich will vier Beispiele nennen, die für Deutschland interessant sein könnten:

  • Regulierung der Berufsausbildung aus einem Guss: Am Beispiel der Schweiz sowie den Niederlanden ist erkennbar, wie der Gesamtbereich der Berufsausbildung in einem Rahmengesetz erfasst und reguliert werden kann. In beiden Ländern wird zudem deutlich, dass eine zentrale Verantwortung für die strategische Ausrichtung der Berufsausbildung durchaus harmoniert mit einer ausgeprägten dezentralen Umsetzung auf der operativen Ebene.
  • Verzahnung dualer und schulischer Ausbildungsformen: Länder wie Österreich, Dänemark oder den Niederlanden zeigen, wie schulische und duale Ausbildungsformen als unterschiedliche, aber gleichwertige Systeme dazu beitragen, dass insgesamt ein ausreichendes, differenziertes Ausbildungsangebot zur Verfügung steht.
  • Ausbildungsabschlüsse auf unterschiedlichen Niveaus: Wie die Beispiele in einigen Ländern zeigen, sind gestufte Ausbildungsabschlüsse weit verbreitet. Die Niederlande kennt ein elaboriertes System mit vier Niveaustufen, die modular strukturiert sind und aus einem System aufbauender Teilqualifikationen bestehen. Dänemark und Norwegen haben ein aufbauendes System aus Grund- und Spezialphasen eingeführt, die nach Ende einer Phase ebenfalls die Zertifizierung der erreichten Teilqualifikationen vorsehen. 
  • Verantwortliche Beteiligung der Lernorte in der Prüfungsgestaltung: Am Beispiel der Schweiz wird deutlich, dass die Verantwortlichkeit für eine Prüfungsgestaltung auch durch ein Zusammenwirken von zentralen und dezentralen Gremien ausgeprägt werden kann. Dort sind alle Lernorte direkt an der Prüfungsgestaltung beteiligt, wobei übergeordneten Gremien auf nationaler, kantonaler oder auch Branchenebene für eine Vergleichbarkeit der Standards sorgen.