Dieser Artikel von Andreas Hammer ist im Original erschienen in der forum arbeit 01/22.
Der allgemeine gesetzliche Mindestlohn wurde zum 1.1.2015 erstmals eingeführt. Dies war nötig, sowohl aufgrund des sehr großen Niedriglohnsektors, der durch den Mindestlohn nicht kleiner wurde, als auch durch das Versagen der Tarifautonomie (schwache Gewerkschaften, Unternehmen ohne Tarifbindung). Die Bundesregierung plant eine einmalige Erhöhung des Mindestlohns auf 12 € brutto pro Stunde zum 1.10.2022 (Referentenentwurf vom 21.1.2022).
Wirkungen
Eine Erhöhung auf 12 € ist sicherlich eine Verbesserung für die davon betroffenen Beschäftigten. Wenn sonst alle Parameter gleich blieben, dann könnten von der Erhöhung rund 8,6 Mio. Beschäftigte profitieren, die 2021 unter 12 € verdienten (WSI Policy Brief Nr. 62, 11/2021).
Armut wird jedoch auch bei Beschäftigung mit 12 € Mindestlohn (working poor) nicht überwunden, existenzsichernd ist der Mindestlohn weitgehend nicht. Ist ein solcher Mindestlohn noch gerecht (vgl. auch § 315 BGB)? Nach der Europäischen Sozialcharta (Art. 4) gilt, „das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt anzuerkennen, welches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern“. Mit einem Mindestlohn von 12 € würde die Pfändungsfreigrenze allenfalls bei einem Single-Haushalt überschritten werden. Der Bund geht davon aus, dass die Zahl von 111.000 vollzeitbeschäftigten Erwerbsaufstocker*innen im SGB II reduziert werden kann (nicht quantifiziert sind jene, die aufgrund des Anreizes eines höheren Mindestlohns Arbeit aufnehmen).
Das Förderinstrument „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ (§ 16i SGB II) berücksichtigt ebenfalls den Mindestlohn. Im Dezember 2019 wurden 31 Prozent solcher Arbeitsverträge mit dem Mindestlohn vergütet (Daten der BA für gemeinsame Einrichtungen). Die geplante Erhöhung (22 Prozent) bewirkt steigende Kosten für dieses Förderinstrument. Bei konstanten Förderquoten wächst der absolute Eigenanteil der Arbeitgeber. Dies macht das Instrument insbesondere für gemeinnützige Arbeitgeber weniger attraktiv. Vermutlich werden einige von ihnen keine Verlängerung von Arbeitsverträgen vornehmen oder Beschäftigte kündigen. Für Jobcenter steigt das Fördervolumen. Bei gleichbleibenden Budget für die Eingliederung in Arbeit nimmt der Anteil der zu bindenden Mittel zu, was zu einer Reduzierung bei anderen Instrumenten führen und regional entweder eine geringere Flexibilität der Planung von ungebundenen Eingliederungsmitteln zur Konsequenz haben kann oder eine Reduzierung der Zahl der geförderten Arbeitsverhältnisse.
Parallel zur einmaligen Erhöhung will die Bundesregierung die Entgeltgrenze für Minijobs („Hartz II“) erhöhen. Statt dieses Vertragsverhältnis abzuschaffen, wird die aktuelle Obergrenze von 450 € im Monat auf 520 € im Oktober 2022 und danach gleitend erhöht. Damit soll der bisherige Umfang von sozialversicherungsfreien Minijobs aufrecht und attraktiv erhalten werden.
Beibehaltung von Mängeln im Mindestlohngesetz
Auffällig ist die Beibehaltung von Mängeln im Mindestlohngesetz, die im Referentenentwurf beibehalten werden.
In der Begründung des Referentenentwurfs zum Mindestlohn wird wie im Koalitionsvertrag der Mythos wiederholt, dass es Anreizen für die Erwerbsaufnahme aufseiten der Erwerbspersonen bedarf.
„Gleichzeitig bewirkt die Erhöhung, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Regel finanziell bessergestellt werden als vergleichbare Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Auf diese Weise wird ein Anreiz zur Aufnahme von Erwerbstätigkeit gesetzt, ohne die sozialrechtliche Pflicht des Staates zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums in Frage zu stellen.“ (Hervorhebung AH)
Die Behauptung, dass es Anreize der Arbeitslosen zur Erwerbstätigkeit braucht, blendet aus, dass es für die Arbeitslosen, wenn alle würden arbeiten wollen, gar nicht genügend offene Stellen gibt (September 2021: Arbeitslose: 1,9 Mio., gemeldete Stellen bei der BA: 0,6 Mio.; Lücke: 1,3 Mio.), und dass Diskriminierung aufgrund von ethnischer oder sozialer Herkunft oder Alter auf dem Arbeitsmarkt gleichfalls eine hemmende Rolle bei der Aufnahme von Beschäftigung spielt.
Mit dem Mindestlohngesetz wurde in der deutschen Arbeitsmarktpolitik vermutlich erstmals das Merkmal „langzeitarbeitslos“ zu einem Tatbestandsmerkmal mit Rechtsfolgenwirkung erklärt. Bis dahin hatte das Merkmal „langzeitarbeitslos“ ausschließlich statistische Bedeutung. Liegt Langzeitarbeitslosigkeit vor, erhält ein Beschäftigter die ersten sechs Monate eines Arbeitsverhältnisses keinen Mindestlohn (§ 22 Abs. 4 MiLoG). Und genau jenen, denen fehlende Anreize unterstellt werden, wird anfangs der Mindestlohn verwehrt. Weiter steht im Gesetz, dass diese Regelung evaluiert (§ 23 MiLoG) werden soll. Der vom Bund in Auftrag gegebene Forschungsbericht hat die vorgenannte Ausnahmeregelung nicht evaluiert (BMAS, Forschungsbericht 561: Der gesetzliche Mindestlohn und Arbeitnehmerschutz. Dezember 2020). Das IAB hat keine Effekte der Ausnahmeregelung festgestellt (Mindestlohn in Deutschland – Effekte der Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose, IAB-Forum vom 5.7.2017). Der Bundesrechnungshof hat in einem Prüfbericht die Ausnahme ebenfalls moniert mit der Aufforderung an den Bund, entweder die Regelung durch die Jobcenter zur Anwendung zu bringen, oder sie abzuschaffen. Im Referentenentwurf ist keine Aussage zur Ausnahmeregelung zu finden.
Unverändert bleibt auch die Regelung zur Bestimmung des Mindestlohnes:
„Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung.“ (§9 Abs. 2 MiLoG)
Wenn wie in den letzten Jahren die Tarifentwicklung schwach ist, dann kann der Mindestlohn auch nur in kleinen Schritten erhöht werden.
Die massive Erhöhung von Energiepreisen in 2021/2022 zeigt, dass mit diesem Verfahren das Ziel des Mindestlohnes (angemessener Mindestschutz der Arbeitnehmer*innen) nicht erreicht wird.
Die Kontrollen zur Durchsetzung des Mindestlohngesetzes sind nicht optimal. Hierzu fehlen konkrete Verbesserungspläne.
Fazit für das Gesetzgebungsverfahren
Im Gesetzgebungsverfahren sollten noch geändert werden:
- Der Mindestlohn sollte höher als 12 € angesetzt werden. Hinweise zur Orientierung bietet der Evaluationsbericht des BMAS. Der Bund ist mit der Setzung von indexierten Mindestlöhnen gefordert.
- 22 (4) MiLoG, wonach Langzeitarbeitslose sechs Monate lang keinen Mindestlohn erhalten, ist zu streichen.
- Die Bezugnahme der Begründung für die Erhöhung des Mindestlohns auf die Anreize für Arbeitslose sollte auch gestrichen werden. Es reicht der Grund, dass der Markt oder die Tarifautonomie versagt hat.
- Dem Evaluationsberichtes nach ist die Stärkung der Tarifautonomie und -bindung effektiver. Dies und den Abbau von Diskriminierungen von Arbeitssuchenden auf dem Arbeitsmarkt sollte die Regierung beschleunigen. Bis dahin sollte von der Mindestlohnkommission von der Tarifentwicklung nach oben abgewichen werden müssen, wenn die Preisentwicklung entsprechend ist.
- Die verbesserte Durchsetzung des Mindestlohnes sollte mitbeschlossen werden.
Weiterführende Darstellungen: www.andreas-hammer.eu; WSI-Mindestlohnarchiv: https://www.wsi.de/de/mindestloehne-in-deutschland-15302.htm
Artikel als PDF: Andreas Hammer: Mindestlohn – Wirkungen und Mängel | forum arbeit 01-22