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Arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung bei Erwerbslosen

forum arbeit 03/24

von Prof. Dr. Alfons Hollederer

Die Gesundheitslage hat sich bei Erwerbslosen in Deutschland stark verschlechtert. Im repräsentativen EU-SILC-Survey des Europäischen Statistikamts hat der Anteil der Erwerbslosen in Deutschland, die ihre allgemeine Gesundheit mit „schlecht“ oder „sehr schlecht“ bewerteten, im Jahr 2022 ein Allzeithoch von 30 % am Erwerbslosenbestand erreicht. Wie die Abbildung 1 demonstriert, übertrifft dieser Anteil mit sehr weitem Abstand den korrespondierenden Prozentsatz unter Erwerbstätigen mit 4 %. Die schlechte Gesundheit von Erwerbslosen in Deutschland ist aber auch im europäischen Vergleich auffällig, da der analoge Durchschnittswert bei Erwerbslosen der EU-27-Staaten in etwa bei 10 % im EU-SILC-Survey 2022 lag. Diese großen Gesundheitsunterschiede zwischen Erwerbslosen und Erwerbstätigen in Deutschland weisen auf einen hohen Bedarf an Prävention und Gesundheitsförderung hin. Erwerbslosigkeit ist eine soziale Determinante mit negativen Auswirkungen auf die Gesundheit. Gleichzeitig stellen Gesundheitseinschränkungen ein Vermittlungshemmnis am Arbeitsmarkt dar. Hier kann arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung ansetzen. Sie zielt sowohl auf die Krankheitsverhütung bzw. Erhöhung von Gesundheitsressourcen als auch den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit und die Arbeitsmarktintegration ab.

Abbildung 1: Schlechter oder sehr schlechter Gesundheitszustand (selbstbewertet) nach Erwerbsstatus in Deutschland im EU-SILC

Anmerkung: Eurostat Database mit Zugriff vom 8.8.2024; Allgemeiner Gesundheitszustand dichotomisiert: sehr schlecht / schlecht versus mittelmäßig / gut / sehr gut); Eigene Darstellung.

Das Präventionsgesetz 2015 brachte Verbesserungen in der nationalen Präventionsstrategie und Finanzierungsgrundlage für die Gesundheitsförderung bei Erwerbslosen in Deutschland. So ist im § 20a Sozialgesetzbuch (SGB) V jetzt festgeschrieben, dass bei der Erbringung von Leistungen zur Gesundheitsförderung und Prävention „für Personen, deren berufliche Eingliederung auf Grund gesundheitlicher Einschränkungen besonderes erschwert ist, die Krankenkassen mit der Bundesagentur für Arbeit und mit den kommunalen Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende eng zusammen[arbeiten].“ Erwerbslose wurden außerdem als Zielgruppe in die Bundesrahmenempfehlungen der Nationalen Präventionskonferenz aufgenommen. Trotz dieser Novellierungen ist aber zu konstatieren, dass die Reichweite der Gesundheitsförderung bei Erwerbslosen in der Fläche nach wie vor klein ist. Wie die jährlichen Präventionsberichte der Gesetzlichen Krankenversicherung offenlegen, ist derzeit die Anzahl der direkt erreichten Erwerbslosen durch Primärprävention und Gesundheitsförderung nach § 20 SGB V sogar geringer als vor der COVID-19-Pandemie. Es besteht ein Vollzugsdefizit.

In der Wissenschaftsperspektive gibt es jedoch Fortschritte bei der Interventionsentwicklung und in der Evidenzbasierung zu berichten. Die Wirksamkeit der Gesundheitsförderung bei Erwerbslosen ist mittlerweile durch eine internationale Metaanalyse von Paul und Hollederer (2023) belegt. Diese Metaanalyse schließt 34 Primärstudien mit gesundheitsbezogenen Interventionen bei Erwerbslosen ein. Vor allem für die psychische Gesundheit waren die durchschnittlichen metaanalytischen Effektgrößen beim Vergleich der gepoolten Studienergebnisse zu den Interventions- und Kontrollgruppen statistisch signifikant, sowohl kurz nach der Intervention als auch bei den Follow-Ups. Effekte konnten auch bei der Förderung der körperlichen Aktivität nachgewiesen werden. Da die Effektgrößen auf die Gesundheit meist klein waren, ist aber zu beachten, dass der Erreichungsgrad von Erwerbslosen deswegen hoch sein muss, um populationsbezogen Wirkung zu erzielen (Stichwort „Präventionsparadox“).

Foto: Julia Baumgart

Von besonderer Bedeutung für die Gesundheitsförderung ist der häufig mangelnde Wissenschaft-Praxis-Transfer. Es stehen mehrere evaluierte Programme zur Prävention und Gesundheitsförderung bei Erwerbslosen in Deutschland zur Verfügung. Dazu zählt beispielsweise das vom Michigan Prevention Research Center (MPRC) entwickelte „JOBS Program“. Die Effektivität und Übertragbarkeit von JOBS Program wurde vor Kurzem durch eine konfirmatorische Studie (Hollederer & Jahn, 2023) für Deutschland bestätigt. JOBS Program ist multimodal angelegt und integriert Elemente des sozialen Lernens auf Basis von sozial-kognitiven Theorien und zur Selbstwirksamkeit. Das Programm setzt auf Lernen in Kleingruppen unter Anleitung von Trainertandems. Die Trainings werden (nur) in je 5-stündigen Sessions in einer Woche durchgeführt. Ein wichtiges Basiselement ist darunter die Antizipation und Vorbereitung von Erwerbslosen auf den Umgang mit Rückschlägen. Wie die Prozessevaluation zeigt, gibt es in der Gesundheitsförderung jedoch vielfältige praktische Herausforderungen im System und Schwierigkeiten bei der Implementierung – trotz bekundeten Interesse bei Erwerbslosen und Jobcentern (Hollederer, Frempong & Jahn, 2023).

Generell hat die Gesundheitsförderung ein Problem, Erwerbslose direkt zu erreichen. Von gesetzlichen Krankenkassen wird relativ häufig der Datenschutz von Sozialdaten als Hindernis für die direkte Ansprache von Erwerbslosen in ihrem Versichertenstamm angeführt. Die etablierten Ansätze der Gesundheitsförderung adressieren oft Lebenswelten, in denen sich Erwerbslose per se wenig aufhalten (wie Betriebe, Schulen, Kindergärten etc.). Die vorhandenen Präventionskurse müssten sich stärker Erwerbslosen öffnen. Es braucht niederschwellige Angebote, insbesondere in sozialen Brennpunkten mit hoher Erwerbslosenquote. Im Bereich der Arbeitsförderung fehlen dagegen häufig die Gesundheitskompetenzen und die Kooperation mit Gesundheitsberufen. Die verschiedenartigen Zugangswege zu Erwerbslosen haben jeweils Vor- und Nachteile. Eine gute Möglichkeit ist die Integration von Modulen der Gesundheitsförderung/-orientierung in Arbeitsförderungsmaßnahmen. Dieser Zugangsweg wäre in Deutschland über Ausschreibungen potenziell schnell ausbaufähig. In der Vergangenheit haben sich dabei auch Beschäftigungs- und Qualifizierungsunternehmen als geeignetes arbeitsmarktnahes Setting für die Gesundheitsförderung bei Erwerbslosen erwiesen (vgl. Hollederer, 2021).

Es ist außerdem in der Gesundheitsförderung zu beachten, dass es „den Erwerbslosen“ nicht gibt. Der Erwerbslosenbestand setzt sich aus heterogenen Personengruppen zusammen. Darunter sind auch vulnerable Zielgruppen wie Menschen mit psychischen Erkrankungen. Sie bräuchten eine Zielgruppenspezifizierung in den Angeboten und bei den Konzeptionen der Gesundheitsförderung. Eine stärkere Verzahnung mit regionalen Gesundheitsnetzwerken wäre wünschenswert.

Schließlich ist die Präventionsberichterstattung über die Umsetzung und Zielerreichung bei Erwerbslosen zu verbessern. Der 2. Nationale Präventionsbericht nach § 20d SGB V wird im Anspruchsniveau den Herausforderungen und den im EU-SILC abgebildeten Entwicklungen bei Erwerbslosen nicht gerecht. Es fehlt eine unabhängige wissenschaftsbasierte Präventionsberichterstattung. Der repräsentative EU-SILC-Survey kann als jährliche Wiederholungsbefragung für ein Gesundheitsmonitoring bei Erwerbslosen dienen und über eine etwaige Trendumkehr Auskunft geben.

Foto: Julia Baumgart

Unser Autor Prof. Dr. Alfons Hollederer ist Professor für das Fachgebiet „Theorie und Empirie des Gesundheitswesens“ am Institut für Sozialwesen im Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Kassel.

Literatur

Hollederer, A. (Hg.) (2021). Gesundheitsförderung bei Arbeitslosen. (512 Seiten) FH-Verlag, Frankfurt a.M. https://www.fhverlag.de/ 

Hollederer, A., Frempong, A. H., Jahn, H. J. (2023). Herausforderungen bei der Förderung der Gesundheit von Arbeitslosen am Beispiel JOBS Program Deutschland. Public Health Forum, Vol. 31, No. 3, 2023, 175-180. https://doi.org/10.1515/pubhef-2023-0048

Hollederer, A.; Jahn, H.J. (2023). Results from a Nationwide Evaluation Study of Labor Market-Integrative Health Promotion for the Unemployed: Impact of the JOBS Program Germany. Int. J. Environ. Res. Public Health 2023, 20, 6835. https://doi.org/10.3390/ijerph20196835

Paul, K.I.; Hollederer, A. (2023). The Effectiveness of Health-Oriented Interventions and Health Promotion for Unemployed People—A Meta-Analysis. Int. J. Environ. Res. Public Health 20, 6028. https://doi.org/10.3390/ijerph20116028