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Der Weg zu einer intersektional inklusiven Migrationsgesellschaft ist noch weit

forum arbeit 04/24

ein Interview mit Sevgi Bozdağ

Können Sie uns einen Überblick über die Arbeit von „Interaktiv e.V.“ geben, welche Zielgruppen versuchen Sie mit ihren Angeboten anzusprechen und zu erreichen??

Sevgi Bozdağ: InterAktiv e.V. – Verein zur Förderung eines gleichberechtigten Lebens für Menschen mit Behinderungen – wurde auf Initiative
von mir im Jahre 2011 in Berlin gegründet. Der Verein setzt sich für Inklusion, Partizipation, Emanzipation und gesellschaftliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und Migrationsgeschichte ein, unabhängig von Art und Schwere der Behinderung, Herkunft, Religion, Sprache oder Aufenthaltsstatus.

Wir bieten kostenlose, umfassende Beratung, Alltagsunterstützung, Vernetzung und Freizeitaktivitäten an, insbesondere für Personen, die aufgrund der Kombination von Behinderung, Rassismus und Aufenthaltsstatus intersektionaler Diskriminierung ausgesetzt sind. Ein zentrales Anliegen ist die ganzheitliche Betrachtung der Lebenssituation unserer Zielgruppe in allen Bereichen der gesellschaftlichen Teilhabe, wobei sehr häufig auch Angehörige einbezogen werden.

Zudem richten wir uns an Multiplikator:innen, beispielsweise in den Bereichen Flüchtlingshilfe, Teilhabeleistungen, Jugendhilfe, Bildung,
Politik und Öffentlichkeit. Missstände, die während unserer Beratungs- und Begleitungsarbeit sichtbar werden – wie gesundheitliche und soziale
Unterversorgung sowie strukturelle Benachteiligungen – werden kontinuierlich aufgezeigt.

Sevgi Bozdağ ist Vorsitzende der Geschäftsführung im Ehrenamt der InterAktiv e.V.

www.interaktiv-berlin.de

Foto: Hüseyin Islek

Warum ist es für diese Zielgruppe oft schwieriger einen gleichwertigen Zugang zu Bildung, Arbeit und Teilhabe an der Gesellschaft zu erhalten?

Sevgi Bozdağ: Menschen mit Behinderungen und Migrationsgeschichte stehen häufig vor vielfältigen, miteinander verflochtenen Barrieren, die zu mehrfacher Diskriminierung führen. Sie erfahren Benachteiligungen aufgrund von Behinderung, Herkunft, Sprache, Aussehen sowie sozialem und rechtlichem Status. Diese intersektionalen Diskriminierungen erschweren ihre gleichberechtigte Teilhabe erheblich.

Die Anforderungen eines komplexen Asyl- und Sozialsystems stellen Migrant:innen und Geflüchtete mit Behinderung vor enorme Herausforderungen. Bürokratische Hürden erschweren den Zugang zu essenziellen Leistungen wie Pflege, Sozialhilfe oder Assistenz. Rechtliche Ausschlüsse, komplexe Verfahren und fehlende Unterstützung bei Anträgen verstärken die Problematik. Zudem beeinträchtigen langsame Prozesse und eingeschränkte Aufenthaltsrechte die Versorgung mit Hilfsmitteln und Förderangeboten. Auf dem Arbeitsmarkt begegnen sie zusätzlichen Hindernissen durch die Nichtanerkennung von Abschlüssen und rassistische Vorurteile. Sprachbarrieren erschweren insbesondere den Zugang zu Bildung und Arbeit. Die geringe Wertschätzung von Mehrsprachigkeit und die Fokussierung auf hohe Deutschkenntnisse verschärfen die Lage, während bedarfsgerechte Sprachkurse und Dolmetscher:innen fehlen.

Viele Betroffene leben aufgrund von Diskriminierung und gesetzlichen Nachteilen in sozioökonomisch prekären Verhältnissen. Enge Wohnverhältnisse in Sammelunterkünften und fehlende Privatsphäre beeinträchtigen den Zugang zu Bildung und Arbeit. Zudem fehlt es an Mitteln für Fortbildungen oder Hilfsmittel, und soziale Netzwerke sind oft nicht vorhanden. Ein weiteres Problem ist der Mangel an Fachkräften, die sowohl Behinderung als auch Migrationserfahrungen adäquat berücksichtigen können. Viele Institutionen sind nicht auf die spezifischen Bedürfnisse dieser Gruppe vorbereitet. Rassistische und ableistische Vorurteile führen dazu, dass Rechte und Bedürfnisse Betroffener von Behörden, Arbeitgebern oder Bildungseinrichtungen häufig ignoriert werden. Dies äußert sich etwa darin, dass arbeitsfähige Personen als arbeitsunfähig eingestuft oder schwer kranken Menschen Arbeitsunwilligkeit unterstellt wird.

Insbesondere Menschen mit Migrationsgeschichte wird der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt verwehrt, während sie unverhältnismäßig oft in Werkstätten oder Förderbereiche eingruppiert werden. Geflüchtete bringen häufig traumatische Erfahrungen mit und erleben in Deutschland zusätzliche Diskriminierung und Ausgrenzung. Psychologische Unterstützung ist zwar dringend erforderlich, aber oft nicht verfügbar oder zugänglich.

“Geflüchtete bringen häufig traumatische Erfahrungen mit und erleben in Deutschland zusätzliche Diskriminierung und Ausgrenzung.”

Welche besonderen Ansätze oder Methoden wenden
Sie an, um kultursensible Beratung zu gewährleisten?

Sevgi Bozdağ: Um eine respektvolle und inklusive Gesellschaft zu fördern, ist es wichtig, Menschen als Individuen zu betrachten und nicht aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten zu bewerten. Von daher praktizieren wir eine lebensweltorientierte und diskriminierungssensible Beratung, die die individuelle Sozialisation, Erfahrungen, das soziale Umfeld sowie die Werte und Normen unserer Ratsuchenden berücksichtigt
und als Ressourcen wertschätzt. Diese Faktoren wirken bei jeder Person einzigartig zusammen, weshalb die Vorstellung klar abgegrenzter Kulturen dieser Komplexität und Individualität nicht gerecht wird. Wir nehmen nicht nur die geäußerten Wünsche und Bedürfnisse ernst, sondern betrachten den ganzen Menschen.

Ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit ist die Reflexion eigener kultureller Prägungen und Vorurteile. Unsere Berater:innen bilden sich kontinuierlich weiter und reflektieren in Supervisionen, wie ihre Sozialisation den Beratungsprozess beeinflusst. 

Zu Beginn jeder Beratung begegnen wir den Ratsuchenden mit einer Haltung des Nichtwissens und echtem Interesse an ihrer Lebensrealität. Durch aktives Zuhören und zusätzliche Recherchen vertiefen wir unser Verständnis, um passgenaue Lösungen zu entwickeln. 

Wir respektieren die Bedeutung von Familie und Gemeinschaft und beziehen deren Perspektiven in Entscheidungsprozesse ein. Ebenso achten wir auf den Einfluss religiöser Praktiken und gehen damit respektvoll um.

Effektive Kommunikation unterstützen wir durch den Einsatz von Dolmetscher:innen oder Peer-Sprachmittler:innen: innen sowie durch klare und einfache Sprache, um komplexe Themen verständlich zu machen. Vertraulichkeit ist dabei ein zentraler Grundsatz, insbesondere bei sensiblen Themen oder rechtlichen Unsicherheiten.

Unser Empowerment-Ansatz stärkt die Selbstbestimmung der Ratsuchenden, indem sie ermutigt werden, ihre Ressourcen und Netzwerke zu nutzen und sich für ihre Interessen einzusetzen. Dabei erkennen wir die Herausforderungen an, die durch bestehende Strukturen entstehen, und arbeiten gemeinsam an Lösungen, die den Bedürfnissen der Ratsuchenden entsprechen.

Welche Potenziale hat kultursensible Beratung in
diesem Kontext?

Sevgi Bozdağ: Oft fühlen sich unsere Ratsuchenden im öffentlichen Diskurs, in Verwaltungsprozessen wie dem Asylverfahren und im Alltag unerwünscht; ihre Perspektiven werden häufig nicht anerkannt. Hinzu kommen Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit Behinderungen.

Unsere lebensweltorientierte und diskriminierungssensible Beratung stellt den Menschen mit seinen individuellen Lebensrealitäten in den Mittelpunkt. Sie berücksichtigt persönliche Erfahrungen, kulturelle Hintergründe und soziale Kontexte, um Vertrauen und eine respektvolle Zusammenarbeit zu fördern. Besonders für unsere Zielgruppe ist diese Herangehensweise essenziell, da sie ihre Teilhabe stärkt und Barrieren abbaut.

Durch die Wertschätzung der Vielfalt und die Berücksichtigung individueller Kommunikationsstile werden Missverständnisse reduziert und ein Dialog auf Augenhöhe ermöglicht. Zudem hilft eine solche Beratung dabei, die Vielfalt als Bereicherung für die Gesellschaft zu begreifen und den Respekt für verschiedene Hintergründe zu fördern. Dies trägt dazu bei, Vorurteile abzubauen und ein besseres Verständnis für die Lebensrealitäten von Menschen aus unterschiedlichen Kontexten zu entwickeln. Durch die Beratung können somit Diskriminierung und Stigmatisierung verringert werden, indem aufgezeigt wird, wie Vorurteile aufgelöst und Inklusion gefördert werden können.

Besonders bei Personen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, ermöglicht diese Beratungsform, Traumata in einem sicheren und respektvollen Rahmen zu adressieren. Dadurch können Belastungen, die sich negativ auf die Teilhabe an der Gesellschaft auswirken, erkannt und in den Beratungsprozess integriert werden.

Zudem fördert unsere lebensweltorientierte und diskriminierungssensible Beratung das Empowerment von Menschen, indem sie ihnen hilft, ihre eigenen Ressourcen, Fähigkeiten und Ziele zu erkennen und zu verfolgen. Die Beratung kann die Ratsuchenden dabei unterstützen, selbstbewusster in der Gesellschaft zu agieren und ihre Rechte wahrzunehmen.

Durch eine solche Beratung wird den Ratsuchenden der Zugang zu sozialen, beruflichen und kulturellen Ressourcen erleichtert. Diese Form der Beratung kann helfen, Integrationsbarrieren zu überwinden, etwa durch Unterstützung bei der Anerkennung von Qualifikationen oder beim Erwerb von Sprachkenntnissen. Zudem können sie umfassend über ihre Rechte und Möglichkeiten in ihrem neuen Lebensumfeld informiert werden, was die gesellschaftliche Teilhabe stärkt.

Diese Beratungsform bezieht sich nicht nur auf einzelne Aspekte der Lebenssituation, sondern betrachtet die gesamte Lebensrealität der Ratsuchenden. Bei unseren Ratsuchenden ist es wichtig, alle relevanten Faktoren – wie Gesundheit, soziale Netzwerke, rechtliche und finanzielle Aspekte – in die Beratung einzubeziehen. Statt pauschale Lösungen anzubieten, wird die Beratung auf die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen der Ratsuchenden zugeschnitten, um maßgeschneiderte Lösungen zu entwickeln. Durch diesen ganzheitlichen Ansatz wird die gesellschaftliche Teilhabe gestärkt und der Weg zu mehr Inklusion und Gleichberechtigung geebnet.

“Wichtige Eckpfeiler sind Menschenrechtsorientierung, Diskriminierungssensibilität und Parteilichkeit.”

Wie können andere Organisationen oder Fachkräfte von Ihren Ansätzen in der kultursensiblen Beratung lernen? Welche Empfehlungen würden Sie weitergeben?

Sevgi Bozdağ: Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit eigenen Vorurteilen und impliziten Ausschlüssen ist sowohl auf individueller als auch auf struktureller Ebene essenziell für lebenslanges Lernen.

Es gibt zahlreiche Workshops zu Themen wie Rassismus, Critical Whiteness, intersektionaler Diskriminierungssensibilität und diversitätssensibler Organisationsentwicklung, die wertvolle Impulse bieten. Supervision und Intervision schaffen Räume, um eigene Denkmuster zu reflektieren und deren Einfluss auf die alltägliche Beratungsarbeit sowie auf strukturelle Gegebenheiten zu erkennen.

Dabei stellen sich Fragen wie: Welche Normen und Werte halte ich für universell gültig? Wie gehe ich mit vermeintlicher Anders- oder Gleichheit um? Welche Positionen und Erfahrungen bringen wir als Teammitglieder mit?

In der Beratung legen wir Wert auf die Entwicklung einer gemeinsamen Haltung und gemeinsamer Werte, die sich in der Praxis widerspiegeln. Elemente wie Wertschätzung, Respekt und eine neugierige Sensibilität gegenüber der Lebenswelt der Ratsuchenden ermöglichen es, individuelle Ressourcen zu stärken.

Wichtige Eckpfeiler unserer Beratung sind Menschenrechtsorientierung, Diskriminierungssensibilität und Parteilichkeit. Wir ermutigen Fachkräfte und Organisationen, gemeinsam mit ihren Zielgruppen für strukturelle und politische Veränderungen einzutreten. Hin zu einer intersektional inklusiven Migrationsgesellschaft ist es noch ein weiter Weg, der im Kleinen wie im Großen kontinuierlich erstritten werden muss.

Was wünschen Sie sich von der Politik? Gibt es konkrete Ideen/Lösungsvorschläge?

Sevgi Bozdağ: Die Entwicklung und konsequente Umsetzung von Antidiskriminierungsgesetzen sind essenziell, um allen Menschen in Deutschland, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, gleichen Zugang zu grundlegenden Bereichen wie Gesundheit, Bildung und Arbeit zu gewährleisten. Aktuell ist der Zugang zu vielen Leistungen stark vom Aufenthaltsstatus abhängig.

Beispielsweise regelt das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) die Gesundheitsversorgung für Asylsuchende, wobei in den ersten 18 Monaten des Aufenthalts nur eine eingeschränkte medizinische Versorgung vorgesehen ist. Obwohl Kinder und Jugendliche in Deutschland grundsätzlich ein Recht auf Bildung haben, stoßen insbesondere Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und Personen ohne Bleiberecht im Bildungssystem auf zahlreiche Hindernisse, die ihren Zugang erschweren. Zudem benötigen Personen mit bestimmten Aufenthaltstiteln eine besondere Erlaubnis der Ausländerbehörde sowie unter Umständen der Arbeitsagentur, um arbeiten zu dürfen, während andere ohne Genehmigung eine Beschäftigung aufnehmen können. Ein unbürokratischer Zugang zur Anerkennung im Ausland erworbener Qualifikationen ist hierbei unerlässlich. Vereinfachte Verfahren oder Beratungsstellen könnten eine schnellere und transparentere Anerkennung ermöglichen.

Gemäß dem Prinzip „Nicht über uns ohne uns“ sollten benachteiligte Gruppen aktiv in alle Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Zudem ist es wichtig, dass politische Gremien und Entscheidungsträger die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln.

Zur Überwachung von Diskriminierung und Entwicklung gezielter Maßnahmen könnten Mechanismen zur Datenerfassung eingeführt werden. Regelmäßige Überprüfungen und Anpassungen dieser Maßnahmen sind notwendig, um ihre Wirkung sicherzustellen. Politische Initiativen, die das Bewusstsein für Vielfalt und die Vorteile von Integration stärken, könnten durch Medienkampagnen, Bildungsprojekte und öffentliche Veranstaltungen den Wert kultureller Diversität und Inklusion hervorheben.

Schulungen für Beamte und Mitarbeitende im öffentlichen Sektor könnten helfen, die Prinzipien der Gleichheit und Nichtdiskriminierung zu vermitteln. Unterstützt durch Forschungsprojekte zur Diskriminierung könnten fundierte politische Entscheidungen getroffen werden.

Zudem sollte die Politik gezielt Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und lokale Initiativen wie InterAktiv unterstützen, die mit den spezifischen Bedürfnissen von Migranten:innen, Geflüchteten und Menschen mit Behinderungen vertraut sind und sich für deren Belange einsetzen. Dies sollte nicht nur durch zeitlich befristete Projektförderungen, sondern durch direkte, dauerhafte Regelfinanzierungen geschehen.

Durch die Umsetzung dieser und viele andere Maßnahmen kann die Politik dazu beitragen, soziale Ungleichheiten zu verringern und eine inklusive Gesellschaft zu fördern, in der alle Menschen gleiche Chancen auf ein erfülltes Leben haben.