Dieser Artikel von Dr. Malte Lübker ist im Original erschienen in der forum arbeit 01/22.
Am 1. Oktober 2022 steigt der deutsche Mindestlohn auf 12 Euro. Der Schritt ist lange überfällig: Als der Mindestlohn im Jahr 2015 eingeführt wurde, geschah dies auf einem überaus vorsichtigen Niveau – zu laut war der Chor der Kritiker, die im Vorfeld den Verlust von mehreren hunderttausend Arbeitsplätzen prognostiziert hatten (Herzog-Stein et al. 2018). Inzwischen ist es weitgehend Konsens, dass der Mindestlohn per Saldo keine Beschäftigung gekostet hat und die düsteren Prognosen auf irrigen Modellen zur Funktionsweise des Arbeitsmarktes beruhten (Bruttel/Baumann/Dütsch 2019). Trotzdem ist der Mindestlohn in den sieben Jahren seit seiner Einführung real (also nach Abzug der Inflation) nur um 5,1 Prozent gestiegen (Lübker/Schulten 2022, S. 15).
Die Lohnsteigerungen der vergangenen Jahre sind auch im internationalen Vergleich ein überaus bescheidenes Ergebnis: In anderen Ländern war die Entwicklung in den letzten Jahren weitaus dynamischer (siehe Abbildung 1). Dies ist nicht nur in Osteuropa der Fall, wo die hohen Steigerungsraten auch mit dem niedrigen Ausgangsniveau zu erklären sind, sondern auch in vielen westlichen Ländern. So verfolgen beispielsweise Großbritannien, Spanien, Neuseeland und Korea seit einigen Jahren explizit eine Politik, die auf ein strukturell höheres Mindestlohnniveau abzielt (Lübker/Schulten 2022, S. 10ff.). Ein wichtiger Richtwert für Mindestlöhne, die im nationalen Kontext angemessen sind, ist dabei die Schwelle von 60 Prozent des Medianlohns, die auch von der Europäischen Kommission (2020, S. 22) im Kontext der Europäischen Mindestlohnrichtlinie angeführt wird. Deutschland begibt sich mit dem Mindestlohn von 12 Euro in Reichweite dieser Zielgröße (Weinkopf/Kalina 2020) und würde so innerhalb der Europäischen Union vom Nachzügler zum Vorreiter werden.
Die Schätzungen dazu, wie viele Menschen direkt von der Mindestlohnerhöhung profitieren werden, schwanken je nach verwendeter Datenquelle. Auf Basis der Verdienststrukturerhebung 2018 errechnete das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im vergangenen Jahr, dass rund 10 Millionen Beschäftigungsverhältnisse direkt betroffen wären (zit. nach FAZ 2021). Pusch (2021, S. 17) kommt mit Hilfe einer Fortschreibung des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zu einer etwas geringeren Zahl, namentlich 7,3 Millionen Hauptjobs und 1,3 Millionen Nebenjobs. Ende vergangenen Jahres hat auch das Statistische Bundesamt (2021) eine Auswertung vorgelegt, die auf der im April 2021 erstmals durchgeführten neuen Verdiensterhebung beruht. Zu diesem Zeitpunkt lagen die Löhne von 7,2 Millionen Beschäftigten unterhalb von 12 Euro. Wenn die Verdienste auf den Oktober 2022 fortgeschrieben werden, sinkt die Zahl der direkt Begünstigten auf 6,2 Millionen (DGB 2022). Zu berücksichtigen ist allerdings, dass viele Beschäftigte aus den klassischen Niedriglohnbranchen zum Erhebungszeitpunkt in Kurzarbeit waren und so aus den Daten herausfallen.
Schaut man sich an, in welchen Berufe derzeit die Löhne besonders häufig unterhalb von 12 Euro liegen, so gibt es zunächst keine Überraschungen: Auf den ersten drei Rängen finden sich Helfer/in in der Küche, Friseur/in und Bäckereifachverkäufer/in, gefolgt von anderen Berufen aus dem Gastgewerbe (Restaurantfachmann/-frau, Hotelfachmann/-frau) und dem Einzelhandel (Fleischereifachverkäufer/in, Kaufmann/-frau im Einzelhandel). Alle der genannten Berufe – mit Ausnahme der Küchenhelfer/innen – zählen in der Systematik der Berufe zu den Fachkräften. Verglichen mit den Helfer- und Anlerntätigkeiten ist das strukturelle Risiko für Löhne unterhalb von 12 Euro hier zwar geringer (Abbildung 2), einen zuverlässigen Schutz bietet aber auch eine abgeschlossene, dreijährige Berufsausbildung nicht. Zu den Begünstigten des künftigen Mindestlohns gehören auch Beschäftigte, die früher wie selbstverständlich zur Mittelschicht gezählt hätten: Zahnmedizinische Fachangestellte (Rang 23), Arzthelfer/innen (Rang 35) und Rechtsanwaltsfachangestellte (Rang 43) (Lübker 2021, S. 14).
Der Niedriglohnsektor reicht heute also bis in die Arztpraxen und Anwaltskanzleien des Landes. Hintergrund ist, dass die Tarifbindung in Deutschland über die beiden vergangenen Jahrzehnte einen beispiellosen Erosionsprozess durchlaufen hat: Während zur Jahrtausendwende noch 68 Prozent der Beschäftigten unter den Geltungsbereich eines Tarifvertrages fielen, waren es im Jahr 2020 nur noch 51 Prozent (Lübker/Schulten 2021, S. 6; Ellguth/Kohaut 2021, S. 308). Tarifverträge können ihre Schutzfunktion also nur noch unzureichend erfüllen. Zu den strukturellen Risikofaktoren für Löhne unterhalb des künftigen Mindestlohns zählt deshalb – wenig überraschend – eine fehlende Tarifbindung des Arbeitgebers, insbesondere wenn dieser ein kleiner Betrieb ist (Abbildung 3; s.a. Pusch 2021). Auch Frauen, Beschäftigte in Teilzeit und mit befristetem Vertrag (Abbildung 4) sowie Beschäftigte in Ostdeutschland gehören zu den Hauptbegünstigtes des künftigen Mindestlohns.
Höhere Löhne für die Beschäftigten führen zu höheren Lohnkosten für die Arbeitgeber. Anfang Februar sorgte eine Meldung für Aufsehen, nach der mit der Anhebung des Mindestlohns „die größte Gehaltserhöhung der deutschen Geschichte“ anstehe (Die Welt vom 06.02.2022). Die „Hälfte der Betriebe muss Gehälter erhöhen“, hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ vom 02.02.2022). Konsultiert man die zugrunde liegende Quelle – eine Befragung von Personalleitern im Auftrag von Randstad – liest sich dies schon weniger dramatisch: Tatsächlich gaben nur 44 Prozent der Befragten an, dass die Mindestlohnerhöhung überhaupt Auswirkungen auf ihren Betrieb hat. Selbst unter den betroffenen Betrieben müsste nur jeder Vierte die Löhne von mehr als 30 Prozent der Beschäftigten erhöhen, für die Hälfte betrifft die Mindestlohnerhöhung maximal 12 Prozent der Belegschaft (Randstad 2022, S. 10).
Gesamtwirtschaftlich gesehen fallen die Lohnerhöhungen trotz der hohen Anzahl der Menschen, die direkt von dem neuen Mindestlohn profitieren, kaum ins Gewicht: Das geringe Ausgangsniveau der betroffenen Löhne führt dazu, dass auch hohe prozentuale Lohnsteigerungen nur geringe Auswirkungen auf die Lohnsumme haben. Nach aktuellen Berechnungen der Bundesbank (2022, S. 56f) steigt das Lohnniveau in der Folge des Mindestlohns von 12 Euro nur um 0,4 Prozent. Wenn zusätzlich auch Spillover-Effekte auf angrenzende Lohngruppen berücksichtigt werden, liegt der Gesamteffekt bei etwa 0,8 Prozent. Die Forschungsinstitute IMK und WSI der Hans-Böckler-Stiftung waren zuvor auf einen Lohnimpuls etwa 0,6 Prozent gekommen, also in einer ähnlichen Größenordnung (Dullien et al. 2022, S. 5) (Abbildung 5). Nennenswerte Auswirkungen auf die Beschäftigung oder das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) ergeben sich weder aus den Modellierungen der Bundesbank noch aus dem von IMK/WSI verwendeten Modell.[1] Auch das allgemeine Preisniveau erhöht sich in der Spitze im Jahr 2024 mit nur um 0,14 Prozent (Bundesbank) bzw. etwa 0,25 Prozent (IMK/WSI). Damit sind auch die Auswirkungen auf die Inflation nur sehr moderat.
Der Mindestlohn von 12 Euro ist also in erster Linie ein sozial- und arbeitsmarktpolitisches Projekt. Er korrigiert Fehlentwicklungen der letzten Jahre und führt zu einer Neubewertung von Arbeit – insbesondere in der Hälfte des Arbeitsmarktes, die inzwischen jenseits der Reichweite von Tarifverträgen liegt. In Branchen wie dem Gastgewerbe, dem Einzelhandel und anderen Dienstleitungen, wo viele Arbeitgeber ihr Geschäftsmodell auf niedrige Löhne gebaut haben, führt dies naturgemäß zu erheblichem Anpassungsdruck (Abbildung 5). Gleichzeitig schützt der künftige Mindestlohn all jene Arbeitgeber, die nach Tarif zahlen und gute Arbeitsbedingungen bieten, vor Außenseiterkonkurrenz (Bispinck et al. 2020). Der neue Mindestlohn verändert damit auch die Dynamik des Wettbewerbs: Wenn Lohndrückerei keine erfolgversprechende Strategie mehr ist, haben all jene einen Vorteil, die auf Qualität, Innovation und Qualifikation ihrer Beschäftigten setzen.
[1] Bei der Bundesbank (2022, S. 57) beträgt der Effekt auf das reale BIP im Jahr 2023 +0,02 Prozent, im Jahr 2024 liegt er bei -0,01 Prozent.
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Autoreninformation
Dr. Malte Lübker ist Referatsleiter für Tarif- und Einkommensanalysen am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf und Lehrbeauftragter an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Er forscht zu den Themen Tarifbindung, Mindestlöhne und Lohnungleichheit in Deutschland und Europa.
Literatur
Bispinck, R./ Dribbusch, H./ Kestermann, C./ Lesch, H./ Lübker, M./ Schneider, H./ Schulten, T./ Vogel, S. (2020): Entwicklung des Tarifgeschehens vor und nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. BMAS Forschungsbericht Nr. 562, Berlin
Bruttel, O./ Baumann, A./ Dütsch, M. (2019). Beschäftigungseffekte des gesetzlichen Mindestlohns: Prognosen und empirische Befunde, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 20(3), S. 237-253.
Deutsche Bundesbank (2022): Makroökonomische Effekte der geplanten Erhöhung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns auf 12 € je Stunde, in: Monatsbericht 74(2), S. 56-57
DGB (2022): Mindestlohn-Erhöhungsgesetz: Wer profitiert von 12 Euro Mindestlohn?, Pressemitteilung vom 21.02.2022, Berlin
Die Welt (2022): Mindestlohn-Erhöhung – das sind die wahren Kosten für die Betriebe, Ausgabe vom 06.02.2022
Dullien, S./ Herzog-Stein, A./ Lübker, M./ Pusch, T./ Theobald, T. (2022): Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro beeinflusst Inflation kaum. Makroökonomische Simulationsstudie mit dem NiGEM-Modell. IMK Policy Brief Nr. 116, Düsseldorf
Ellguth, P./ Kohaut, S. (2021): Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung: Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2020, in: WSI-Mitteilungen 74(4), S. 306-314
Europäische Kommission (2020b): Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union, COM(2020) 682 final, Brüssel, 28.10.2020
FAZ (2021): Füllt ein höherer Mindestlohn die Staatskasse?, Ausgabe vom 28.08.2021
FAZ (2022): 12 Euro Mindestlohn: Hälfte der Betriebe muss Gehälter erhöhen, Ausgabe vom 02.02.2022
Herzog-Stein, A./ Lübker, M./ Pusch, T./ Schulten, T./ Watt, A. (2018): Der Mindestlohn: Bisherige Auswirkungen und zukünftige Anpassung. Gemeinsame Stellungnahme von IMK und WSI anlässlich der schriftlichen Anhörung der Mindestlohnkommission. WSI Policy Brief Nr. 24, Düsseldorf
Lübker, M. (2021): Wer profitiert von 12 Euro Mindestlohn? Einblicke aus der WSI-Lohnspiegel-Datenbank. WSI Policy Brief Nr. 59, Düsseldorf
Lübker, M./ Schulten, T. (2021): Tarifbindung in den Bundesländern: Entwicklungslinien und Auswirkungen auf die Beschäftigten. 3. Auflage. Elemente qualitativer Tarifpolitik Nr. 89, Düsseldorf
Lübker, M./ Schulten, T. (2022): WSI-Mindestlohnbericht 2022: Aufbruch zu einer neuen Mindestlohnpolitik in Deutschland und Europa, WSI Report Nr. 71, Düsseldorf
Pusch, T. (2021): 12 Euro Mindestlohn: Deutliche Lohnsteigerungen vor allem bei nicht tarifgebundenen Beschäftigten, WSI Policy Brief Nr. 62, Düsseldorf
Randstad (2022): Randstad-ifo-Personalleiterbefragung, Ergebnisse: 4. Quartal 2021, Eschborn
Statistisches Bundesamt (2021): 7,8 Millionen Niedriglohnjobs im April 2021, Pressemitteilung Nr. 586 vom 20. Dezember 2021, Wiesbaden
Weinkopf, C./ Kalina, T. (2020): Der gesetzliche Mindestlohn und Arbeitnehmerschutz, Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales: BMAS-Forschungsbericht Nr. 561, Berlin