Prof. Dr. Matthias Knuth, Research Fellow am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen und der frühere Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung (SAMF) bezieht Stellung in der forum arbeit:
Der Wandel der Arbeitswelt wird seit 40 Jahren diskutiert als etwas, das aufgrund ökonomischer und technologischer Veränderungsprozesse „auf uns zukommt“. Die aktuelle Situation ist eine andere. „Was auf uns zukommt“, wenn wir unsere Wirtschafts- und Lebensweise nicht grundlegend transformieren, ist zu bedrohlich, als dass irgendjemand die arbeitsmarktpolitische Bewältigung dieser Katastrophen ausbuchstabieren möchte. „Transformation“ steht insofern für eine politisch einzuleitende und zu gestaltende Alternative, für einen Pfadwechsel mit dem Ziel, die Katastrophen zu begrenzen und lebenswertes Leben auf diesem Planeten und in unserem Land weiterhin zu ermöglichen. Einige Zielmarken sind gesetzt, einige konkrete Schritte sind beschlossen, die meisten erforderlichen Maßnahmen sind jedoch noch nicht politisch festgelegt. So wenig klar die konkreten Schritte und Zeitpläne sind, so wenig wissen wir über die Auswirkungen auf Niveau, Struktur und Qualität der Beschäftigung und die daraus abzuleitenden Herausforderungen für die Arbeitsmarktpolitik. Nur zu Mosaiksteinen wie Kohleausstieg oder Elektromobilität liegen entsprechende Studien vor.
Ganz anders scheint es sich mit der sogenannten Digitalisierung zu verhalten, die unter Schlagworten wie „Industrie 4.0“ ab etwa 2013 bis zur Corona-Pandemie die Diskurse über den Wandel der Arbeitswelt beherrschte. Hier gibt es etliche Studien, die dem Paradigma historischer Automationsdebatten folgen: Menschliche Arbeit in Produktion und Verwaltung werde ersetzt durch „Maschinen“, aktuell also durch Algorithmen. Arbeit sei umso eher algorithmisierbar und folglich ersetzbar, je höher ihr Routineanteil sei. Jedoch ist die empirische Messung der Routineanteile von Arbeit bisher nicht überzeugend gelungen, und über die Bedingungen, unter denen aus der technischen Möglichkeit der Ersetzung eine betriebliche Realität wird, erfährt man ebenfalls wenig. Statistisch feststellbare Strukturveränderungen der Beschäftigung in den Dimensionen von Anforderungsniveaus und Wirtschaftssektoren widersprechen den Projektionen und haben sich eher verlangsamt.
Vielleicht liegt das daran, dass es mit der Digitalisierung nicht so vorangeht wie im „4.0-Diskurs“ unterstellt, und vielleicht vollzieht sich die aktuelle digitale Transformation nicht dort wo man nach ihr gesucht hat. Anscheinend passiert weniger innerhalb der betrieblichen Produktionsabläufe (dort ist ja in den letzten 40 Jahren auch schon sehr viel passiert) als vielmehr zwischen den Akteuren: zwischen Unternehmen, zwischen Anbietern und Kund*innen, zwischen Arbeitskraftnutzern und Arbeitskraftanbietern. Die konfluente Digitalisierung, wie ich die aktuelle Entwicklungsphase zu charakterisieren versuche (vgl. Abbildung), ist kein Produktionsmittel, sondern wesentlich Interaktions- und Transaktionsmittel. Sie führt nicht primär zur Ersetzung einzelner Tätigkeiten, sondern zur Ablösung kompletter Geschäftsmodelle (mitsamt allen ihren Tätigkeiten) durch neue, die meistens in anderen Unternehmen beheimatet sind. Wenn beispielsweise Online-Handel bestimmte Zweige des stationären Einzelhandelns verdrängt, so ist das nicht vom Routineanteil der Tätigkeiten von Verkäufer*innen abhängig. Wir haben es mit einer Transformation der Distributivkräfte (Pfeiffer 2019; 2021) zu tun, nicht mit einer „vierten industriellen Revolution“.
Hier trifft sich nun die digitale mit den ökologisch erforderlichen oder erzwungenen Transformationen wie Energie‑, Mobilitäts‑ oder Agrarwende: Auch bei letzteren geht es darum, komplette Geschäftsmodelle (z.B. fossile Energieproduktion, Individualmobilität mit Verbrennungsmotor, Massentierhaltung) durch Bepreisung von Externalitäten oder durch Verbot aus dem Markt zu drängen. Teilweise wird das bereits durch natürliche Rückkoppelungsmechanismen erzwungen: Das Geschäftsmodell „Fichtenplantage“ ist bereits in mehr als einem Sinne tot, die Seefischerei von diesem Zustand nicht weit entfernt. Digitalisierung kann die Etablierung neuer Geschäftsmodelle in vielfältiger Weise unterstützen, aber das setzt Infrastrukturen gerade auch „an der letzten Milchkanne“ sowie einen adäquaten rechtlichen Regelungsrahmen – und damit politische Entscheidungen voraus.
Das Szenario „Ablösung von Geschäftsmodellen und nicht bloß Substitution von Tätigkeiten“ hat entscheidende Implikationen für die arbeitsmarktpolitische Flankierung der anstehenden Transformationen: Inkrementelle Anpassungs- und Aufstiegsfortbildung im bestehenden betrieblichen Zusammenhang (WeGebAU, Qualifizierungschancengesetz) reichen nicht aus. Die neuen Arbeitsplätze, die den Wegfall alter kompensieren, werden zum großen Teil nicht in den gleichen Betrieben entstehen. Transformationen werden nicht zu bewältigen sein ohne erheblich verstärkte Mobilität der Beschäftigten zwischen Betrieben, Branchen, Tätigkeiten und Berufen. Ähnliche Botschaften waren auch schon vor 20 Jahren verbreitet, aber entsprechende empirische Indikatoren haben sich seitdem in die entgegengesetzte Richtung entwickelt. Dieses Mal ist es jedoch ernst: Die Mobilität der Beschäftigten wird zunehmen, oder die Transformationen werden nicht stattfinden.
Die bestehende Arbeitsförderung bestraft vorausschauende, freiwillige Mobilität mit „Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe“, gewährt Förderungen erst bei bereits manifesten Risiken („Bedrohung von Arbeitslosigkeit“) oder individuellen Defiziten („fehlender Berufsabschluss“), ist zersplittert in „Rechtskreise“ und macht die Förderung abhängig vom aktuellen Beschäftigungs‑ bzw. Sozialleistungsstatus einer Person. Sie ist deshalb ungeeignet, berufliche Veränderungsprojekte, die über mehrere Stationen von A nach B führen, verlässlich zu begleiten und Veränderungswillige unabhängig von akuten Notlagen zu unterstützen.
Eine grundlegende Reform der bestehenden Strukturen würde angesichts der drängenden Transformationsnotwendigkeiten zu lange dauern. Deshalb schlage ich ein Sonderprogramm „Transformation der Arbeitswelt“ vor, das die bestehenden Strukturen und Angebote ergänzt und für alle Erwerbspersonen, Betriebe und arbeitsmarktpolitischen Akteure zugänglich ist. Bei der Unterhaltssicherung der Teilnehmenden muss die Alterssicherung mitgedacht werden, damit man sich ein Veränderungsprojekt überhaupt leisten kann; d.h. auch für Teilnehmende ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld werden Rentenversicherungsbeiträge entrichtet, wofür die Bestimmungen zur Versicherungspflicht geöffnet werden müssen. Den Finanzbedarf für das Sonderprogramm veranschlage ich mit 4 Mrd. Euro pro Jahr über eine Laufzeit von 10 Jahren. Die Umsetzung erfolgt durch mehrere im Wettbewerbsverfahren zu beauftragende Projektträgerschaften, die jeweils für Großregionen mit mehr als einem Bundesland zuständig sind.
Dieser Artikel erschien in der forum arbeit 03/21. Gestaltungsoptionen einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft. Weitere Ausgaben der forum arbeit finden Sie hier.
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