“Qualifizierung und Beschäftigung (langzeit-)arbeitsloser Menschen” – ein Artikel von Dr. Christopher Osiander. Erschienen in: forum arbeit 04/19 Wie gelingen Qualifizierung und Integration von Langzeitarbeitslosen?. Diesen Artikel kommentierten Dr. Klaus Bermig (BMAS), Pascal Kober (FDP), Jutta Krellmann (Die Linke), Beate Müller-Gemmeke (Bündnis 90/Die Grünen), Kerstin Tack (SPD) und Prof. Dr. Matthias Zimmer (CDU).
Der deutsche Arbeitsmarkt zeigt sich aktuell trotz schwieriger werdender Rahmenbedingungen noch immer in guter Verfassung. Dies spiegelt sich beispielsweise in einem substanziellen Rückgang der registrierten Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren wider.
Trotz der derzeit guten Lage sind die arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen, vor denen Politik, Wirtschaft und Arbeitsverwaltung stehen, vielfältig. Von ungebrochen hoher Relevanz ist die schwierige Situation vieler geringqualifizierter Menschen – also von Personen, die nicht über einen berufsqualifizierenden Abschluss verfügen. Im Jahr 2016 waren das 17 Prozent der Erwachsenen im Alter von 25 bis unter 65 Jahren in Deutschland (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 57). Zwar hat sich die Arbeitsmarktsituation Geringqualifizierter in den letzten Jahren etwas verbessert, ihre Arbeitslosenquote betrug im Jahr 2018 aber immer noch etwa 17 Prozent. Damit war sie mehr als dreimal so hoch wie im allgemeinen Durchschnitt und etwa achtmal so hoch wie die Quote von Fachhochschul- oder Hochschulabsolventinnen und -absolventen (Röttger et al. 2019; siehe auch Abbildung 2).
Formale Bildung ist zudem eng mit dem Einkommen verknüpft. So zeigen Berechnungen von Schmillen/Stüber (2014), dass der durchschnittlich zu erwartende Brutto-Lebensverdienst von Personen mit einem Universitätsabschluss bei einer Vollzeitbeschäftigung etwa 2,3 Millionen Euro beträgt, der von Personen ohne Berufsausbildung knapp 1,1 Millionen Euro. Die Lebensentgelte unterscheiden sich auch substanziell nach Berufsfeldern (Stüber 2016). So verdienen z. B. Fachkräfte im Tourismus-, Hotel- und Gaststättengewerbe unter-, im Bereich der IT-Berufe überdurchschnittlich. Etwas verkürzt und mit anderen Worten lässt sich daher konstatieren: Höhere formale Bildung schützt vor Arbeitslosigkeit und zahlt sich auch finanziell aus – und das je nach Berufsfeld unterschiedlich stark. Umgekehrt ist eine fehlende formale Qualifikation in Termini von Arbeitsmarktergebnissen oft sehr nachteilig.
Die Gruppe der Geringqualifizierten ist zudem sehr heterogen (siehe z. B. Matthes/Weber 2019) – sie umfasst so verschiedene Gruppen wie Personen, die niemals eine Ausbildung begonnen haben, solche, die eine Ausbildung oder ein Studium begonnen, aber abgebrochen haben oder solche, die langjährige Erwerbstätigkeit in einem Tätigkeitsfeld nachweisen können, das nicht ihrer ursprünglichen Berufsausbildung entspricht (in der Terminologie der Bundesagentur für Arbeit auch „Wiederungelernte“ genannt). Auch Personen, die im Ausland erwerbstätig waren, aber deren Erfahrungen in Deutschland nicht in Form eines beruflichen Abschlusses anerkannt wurden oder deren Anerkennung nie beantragt wurde, können als geringqualifiziert gelten.
Prognosen des Erwerbspersonenpotenzials legen nahe, dass die Zahl der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Personen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auch bei hoher Nettozuwanderung und steigenden Erwerbsquoten substanziell abnehmen wird (Fuchs et al. 2017). Vor dem Hintergrund dieser demografischen Entwicklung wird die Qualifizierung Geringqualifizierter als ein möglicher Weg diskutiert, mögliche sektorale, regionale oder berufsfachliche Fachkräfteengpässe zu adressieren. Dies ist eine wichtige Aufgabe, die auch wieder verstärkt ins Blickfeld von Entscheidungsträgern der Arbeitsmarktpolitik rücken sollte.
Ebenfalls problematisch ist die häufig schwierige Situation langzeitarbeitsloser Menschen, also solcher Personen, die ein Jahr oder länger arbeitslos sind (für die nachfolgenden Informationen siehe auch BA 2019). Im Jahr 2018 waren von jahresdurchschnittlich 2,34 Millionen Arbeitslosen rund 800.000 oder knapp 35 Prozent langzeitarbeitslos. Ihre Zahl nahm im Vergleich zu 2017 um etwa zehn Prozent ab, wobei dieser Rückgang überwiegend durch die gesunkene Zahl der Übertritte aus der Kurz- in die Langzeitarbeitslosigkeit „erklärt“ werden kann. Langzeitarbeitslosigkeit wird zudem relativ selten durch eine Beschäftigungsaufnahme beendet: Die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, im Folgemonat aus der Langzeitarbeitslosigkeit heraus eine reguläre Beschäftigung aufzunehmen, liegt bei etwa 1,6 Prozent. Besonders betroffen von Langzeitarbeitslosigkeit sind ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Geringqualifizierte.
Die Integration arbeitsmarktferner Personen – darunter viele Langzeitarbeitslose oder Langzeitleistungsbeziehende – in Beschäftigung steht auch auf der politischen Agenda. Um solchen Personen ein Angebot aus dem Instrumentenkasten der aktiven Arbeitsmarktpolitik machen zu können, wurde seit einiger Zeit über die Einführung eines sogenannten „sozialen Arbeitsmarktes“ diskutiert (Kupka et al. 2019; Kupka/Wolff 2013; Lietzmann et al. 2018). Zentrale Idee hierbei ist es, die gesellschaftliche Teilhabe von Personen zu verbessern, die de facto keine Chance (mehr) auf eine reguläre Beschäftigung haben. Dies geschieht über die öffentliche Förderung einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. … (langzeit-)arbeitsloser Menschen. Dabei sind insbesondere die konkreten Ausgestaltungsbedingungen und die Auswahlkriterien für den sozialen Arbeitsmarkt von großer Bedeutung, damit die Zielgruppe sehr arbeitsmarktferner Arbeitsloser (und nur diese) auch tatsächlich in die Förderung gelangt.
Im Rahmen des sogenannten Teilhabechancengesetzes und des mit ihm neu eingeführten §16i SGB II können seit 1. Januar 2019 Personen über 25 Jahre gefördert werden, die mindestens sechs der letzten sieben Jahren Arbeitslosengeld II bezogen haben und in dieser Zeit höchstens kurzfristig beschäftigt waren. Unternehmen, die einen Arbeitslosen einstellen, auf den die genannten Kriterien zutreffen, können in den ersten beiden Jahren 100 Prozent des tatsächlichen Arbeitslohnes erstattet bekommen, und dies bei einer maximalen Förderdauer von fünf Jahren (BMAS 2019). Im Rahmen einer begleitenden Evaluation werden die Zielgenauigkeit, die konkrete Umsetzungspraxis und die Wirkungen des Instruments evaluiert. Die Erkenntnisse dürften auch für die politische Diskussion um die Weiterentwicklung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentenkastens hochrelevant sein.